Loslassen, was heißt das und was bedeutet es? Dauerfragen in Beziehungen jeglicher Konstellation. Auch und besonders bei Angehörigen von (Sucht)erkrankten. Eine Geschichte dazu:
Ein junger Schüler kam eines Abends zu seinem Meister, die Hände verkrampft zu einer Faust geballt. Man sah ihm die Angst ins Gesicht geschrieben, Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
„Meister“, sagte er mit brüchiger Stimme, „ich habe etwas Kostbares. Aber ich fürchte, wenn ich loslasse, geht es verloren. Wenn ich nicht festhalte, wird es fallen.“
Langsam öffnete er seine Hände. In seiner Faust zitterte ein kleiner Vogel, gehetzt, die Flügel eng an den Körper gedrückt. Die Augen des Schülers füllten sich mit Tränen. „Siehst du? Nur wenn ich festhalte, bleibt er bei mir.“
Der Meister schwieg einen Moment, dann trat er näher. „Fühlst du, wie er zittert? Du bewahrst ihn nicht – du hältst ihn gefangen.“
Der Schüler senkte den Blick, und Tränen rannen nun frei über sein Gesicht. Seine Finger öffneten sich zögernd, einer nach dem anderen, als würde er sein Herz preisgeben. Für einen Augenblick geschah nichts. Dann hob der Vogel den Kopf, schlug mit den Flügeln, unsicher zuerst, dann kräftiger – und erhob sich in die Luft.
Der Schüler schaute ihm nach, bis er nur noch ein kleiner Punkt im Himmel war. In ihm war Leere, aber auch ein ungekanntes Gefühl von Weite. „Er ist fort“, flüsterte er.
Der Meister legte ihm die Hand auf die Schulter, fest und warm. „Und ist nicht gefallen – er ist geflogen. Loslassen heißt nicht, jemanden zu Boden stürzen zu lassen. Loslassen heißt: du vertraust, dass er seine eigenen Flügel hat. Wenn du festhältst, verhinderst du beides: sein Fliegen und sein Wachsen.“
Der Schüler schloss die Augen. Es tat weh – das Herz wehrte sich. Und doch spürte er, wie tief in ihm ein neues Verständnis keimte: Er hatte den Vogel nicht verloren. Er hatte ihm Freiheit geschenkt – und sich selbst auch.
Erstelle deine eigene Website mit Webador